Spürbarer Friede verändert die Welt

Weihnachtsgeschichte von Arnold Benz, Astrophysiker

«Shalom», sagte Frau Balthasar etwas verschämt zum Hotelportier in Jerusalem. Sie hatte intensiv Hebräisch gelernt, seit sie wusste, dass sie ihren Gatten auf seiner Forschungsreise ins ferne Judäa begleiten durfte. Sie wusste nicht, dass der hebräische Gruss «Frieden» bedeutet. Der Portier lächelte und bemerkte, Frieden sei in der Tat dringend nötig im Land. Dies überstieg aber Frau Balthasars Sprachkenntnisse. Die drei Frauen wollten sich eigentlich nur nach dem Weg zu Jerusalems Goldenem Tor erkundigen. Frau Kaspar hatte es als Letztes auf ihrer Liste von Sehenswürdigkeiten, die sie in der berühmten Stadt unbedingt noch besuchen und abzeichnen wollte.

 

In diesem Augenblick kamen ihre drei Ehemänner hereingestürmt. Sie hatten einen Historiker ausgemacht, der ihnen von einer alten Überlieferung erzählte, dass in Bethlehem einmal ein neuer König geboren werde, der alle bisherigen übertreffen werde. Das kleine Bethlehem liegt nur wenige Stunden südlich der Stadt.

 

«Kommt, ihr Lieben!» rief Herr Melchior noch ganz ausser Atem, «Wir gehen gleich.» Frau Kaspar war enttäuscht: «Von dieser Stadt – wie heisst sie schon wieder – steht nichts in meinem Führer. Da gibt es nichts zu sehen.» Frau Melchior, welcher das Fünfsternhotel in Jerusalem sehr behagte, forderte: «Ich will aber am Abend wieder zurück sein.»

Karawane

Die Männer waren Sternkundler auf einer Forschungsreise. Sie waren voller Eifer und liessen sich nicht auf Diskussionen ein. Sie hatten in ihrer Sternwarte weit im Norden einen sehr merkwürdigen Stern entdeckt, der immer heller wurde. Zu Hause kam er nur wenig über den Horizont. Also wollten sie nach Süden reisen, um ihn besser zu beobachten.

 

Es war schon Mittag, bis die Kamele gesattelt, die Reiterinnen und Reiter aufgestiegen und das Expeditionsmaterial aufgeladen war. Bei der Ankunft in Bethlehem dunkelte es bereits. Da war wieder der neue Stern, dem sie schon seit Anfang der Reise folgten, und nun stand er still über einem alten Stall.

 

«Was soll denn das bedeuten?» fragte sich Herr Balthasar. «Hier kann es nicht sein», meinte Herr Melchior. «In dieser Hütte wird kein König geboren.» Es war mittlerweile dunkel und ruhig. Da hörten die Reisenden ein leises Stimmchen. Im Stall weinte ein Kind. «Kommt, wir schauen nach», sagte Frau Balthasar.

 

Draussen vor der Türe

Die drei Frauen gingen hinein. Die Männer warteten draussen und diskutierten über den merkwürdigen Stern. Die Zeit schien still zu stehen. Es war eine sternklare Nacht und kalt. Die Milchstrasse zog sich über den ganzen Himmel von Osten nach Westen und tausende von Sternen glänzten und glitzerten. Nach einer Weile sagte Herr Kaspar: «Der neue Stern hat heute ein auffallend warmes Licht. Der ganze Himmel funkelt eigenartig in bläulicher Farbe.» Und wieder etwas später: «Wir sollten nachsehen, warum unsere Frauen nicht kommen.» In diesem Augenblick trat seine Frau vor die Hütte und rief: «Kommt, wir haben den neuen König gefunden!»

 

Ungläubig traten die drei Astronomen ein. Sie wichen dem Dreck auf dem Boden aus, so gut sie konnten. Drinnen aber war es dunkel und nur eine schwache Kerze beleuchtete eine Ecke mit einem Mann und einer Frau. Sie stillte ein Kind. Die beiden liessen sich vom unerwarteten Besuch nicht stören. Man hörte nur, wie sich Tiere gelegentlich in der Dunkelheit regten. Kein Lärm und keine Hektik, nur Friede war spürbar: Friede, der tiefer war als die Abwesenheit der Geräusche des Alltags.

 

Nach einer Weile fragte Herr Balthasar: «Ist dies der neue König?» «Das haben andere auch schon gesagt», antwortete der junge Vater. «Er soll Friedenskönig werden, der alle Menschen vereint und mit Gott verbindet.»

 

Herr Kaspar ahnte einen Zusammenhang zwischen dem neuen Stern, dem Kind und dem tiefen Frieden im Stall. Alles kam an diesem Ort und in dieser Stunde zusammen: der besondere Stern, ja das ganze Universum, Menschen, Tiere und selbst Gott. «Da geschieht in der Tat etwas Besonderes, vielleicht liegt hier der zukünftige König, wie es noch nie einen gab. Lasst uns die Geschenke holen.»

 

Sie brachten ihr Gold, Weihrauch und Myrrhe aus dem Expeditionsmaterial und schenkten sie dem überraschten Vater. «Völlig daneben! Was sollen die mit dem Zeug anfangen?», dachte Frau Balthasar. Sie sagte aber nichts, da sie sah, wie der Vater die Geschenke ruhig zu den anderen Habseligkeiten in einer Ecke legte. Er würde schon eine Verwendung finden.

 

Weihnachten

Nach einer Weile bemerkte Frau Kaspar: «Was wir hier sehen, haben wir nie erwartet. Es ist etwas ganz Anderes als die touristischen Angebote in Jerusalem.» Völlig hingerissen stand Frau Melchior da und sagte: «Ja, es ist der unvergessliche Höhepunkt unserer Reise. Wir müssen heute Abend nicht schon ins Hotel zurückzukehren.» Sie blieben noch eine Weile stumm im Kreis um die junge Familie stehen. Dann verabschiedeten sie sich in Frieden und zogen leichten Herzens in die Nacht hinaus.

 

Zu Hause beschrieben die Sternkundler ihre Beobachtungen des merkwürdigen Sterns in einem wissenschaftlichen Artikel. Sie hatten keine Erklärung, aber es gab sicher noch mehr solch merkwürdige Sterne im Universum. Der spürbare Friede im Stall war schwieriger zu beschreiben. Man konnte ihn nicht in Formeln zwingen oder in Lehrbücher pressen.

 

Die Frauen aber, die sie begleiteten, erzählten ihren Kindern und Enkeln vom kleinen Kind, von dem der Friede ausging, der den ganzen Stall füllte und sich weiter ausbreitete in die Welt. Und die Kinder wollten diese Geschichte immer wieder hören.

 

Weihnachtsgeschichte Glanzstunde

Weihnachtsgeschichte «Glanzstunde» von Raphaela Caderas, vorgelesen im Weihnachtsstudio

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